Das genialste Bühnenbild, das die Welt je gesehen hat!
Am 15. August verfassten vier Schattenlichter einen Theater-Tipp zu einer Inszenierung des Stücks „1984“ – nach dem bekannten Roman von George Orwell – , die damals mitten im Hochsommer auf der Freilichtbühne des Globe Theaters in der Sömmeringstraße 15 in Berlin-Charlottenburg gezeigt wurde. Eigentlich hatten die vier Schattenlichter das Stück im Berliner Ensemble sehen wollen, aber die Termine passten nicht. Der sommerliche Theater-Tipp endet mit dem Satz: „Man darf gespannt sein, ob das Berliner Ensemble eine ähnliche Form der Umsetzung wählt oder ganz andere Wege beschreitet.“
Mehr als ein halbes Jahr später war es nun an einem eisigen Abend soweit: In derselben Konstellation machten sich die Schattenlichter auf ins ausverkaufte Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm in Berlin-Mitte. Es lohnte sich, denn die Inszenierung war keine Wiederholung der Darstellung im Globe – ebenfalls sehenswert, aber ganz anders.
Nochmal zum Auffrischen: Orwell verfasste den Roman „1984“ bereits in den Jahren 1946 bis 1948. Der britische Autor stand unter dem Eindruck eines soeben zu Ende gegangenen Weltkrieges; er schrieb eine düstere Zukunftsaussicht für das damals fern erscheinende Jahr 1984. Orwell schildert einen totalitären Überwachungsstaat aus Sicht des Erzählers Winston Smith, der ein einfaches Mitglied einer diktatorisch herrschenden, fiktiven Staatspartei ist. Der allgegenwärtigen Überwachung zum Trotz versucht Smith, seine Privatsphäre zu bewahren und etwas über die real geschehene Vergangenheit zu erfahren, die von der Partei durch umfangreiche Geschichtsfälschung verheimlicht wird. Dadurch gerät er mit dem System in Konflikt, das ihn gefangen nimmt, foltert und einer Gehirnwäsche unterzieht.
Zurück zum Berliner Ensemble: Dies ist der erste Theater-Tipp, der mit einer Bühnenbildbeschreibung anfängt. Denn das Bühnenbild war genial! Es bestand aus einer hohen Spiegelwand, die wie ein liegendes spitzes V konstruiert war, wobei sich das Publikum an der offenen Seite des Vs befindet. Das heißt, wer immer sich innerhalb des Vs aufhält, wird mehrfach gespiegelt. Das lässt viel Raum für Interpretationen: ob Spiegel der Seele, Überwachung, Zersplitterung oder einfach nur ein schicker optischer Effekt.
Zur Spiegelung passte der zweite Geniestreich der Inszenierung, nämlich dass Winston Smith nicht nur von einem Schauspieler, sondern von vier etwa gleich gekleideten Schauspielern gleichzeitig gespielt wurde. Dadurch wird sein Monolog zu einem inneren Monolog, der zeigt, wie zerrissen der Charakter ist und welche Diskussionen er in seinem Inneren mit sich selbst austrägt. Eine raffinierte Lösung auch, um den ellenlangen Romantext weniger monoton vortragen zu können.
Als die zweite Person der Handlung auftritt, – die Frau, in die sich Winston verliebt, – ist auch sie vierfach zu sehen. Aber nur eine der vier Schauspielerinnen spielt die Geliebte, die anderen drei dienen als stimmgewaltiger Chor, der mal ein positive Atmosphäre schafft, mal den Untergang dramatisch untermalt.
Das Spiegel-V befindet sich auf einer Drehbühne. Von der Rückseite besehen, eröffnen sich zwei weitere Bühnenbilder in der Stützkonstruktion der Spiegelwand. Diese Stützen diesen den Schauspielern als Gerüst zum Klettern, als Gebäudekulisse, als Zimmer der Liebe, als fensterlose Verhörzelle … Gespielt wird mal im sich bewegenden Bühnenbild, mal vor statischem Hintergrund. Toll!
Über die zweite Stückhälfte waren die Schattenlichter geteilter Meinung: Die älteren waren total genervt, weil das gesamte Verhör eintönig wirkte und für die Zuschauenden fast ebensowenig auszuhalten war wie für den Gefolterten. Da wurden dieselben Stilmittel gefühlt eine halbe Stunde lang beibehalten: monotones Sprechen aller vier Schauspieler gleichzeitig mit Verstärkung durch ein hallendes Mikrofon, außerdem nach jedem Satz ein ekelhaftes Schniefen eines der Schauspieler; das Ganze immer in derselben Zelle. Die jüngeren Schattenlichter hatten mehr Bereitschaft zum Leiden und fanden die Umsetzung gut, denn das Verhör und die Gehirnwäsche sollten in ihren Augen nicht beschönigt werden, da es da nichts zu beschönigen gibt.
„1984“ ist wieder am 27. und 28. März sowie am 14. und 15. April zu sehen. Was den Schattenlichtern sehr gefallen hat: Auch wenn die Berufstätigen für Plätze in Reihe 9 knapp 50 Euro berappen mussten, kosteten die Studi-Tickets nur 9 Euro. Für die Pause ist dringend eine Vorbestellung von Getränken geraten, denn die Schlange am Bartresen war noch nicht abgearbeitet, als die Pause zu Ende ging. Das können die Schattenlichter besser!